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Das Unvorhersehbare beherrschen

Die finanziellen Risiken auf dem Bau steigen – insbesondere bei komplexen TU- und GU-Projekten. Um diese gezielt zu steuern, hat Implenia ein systematisches Riskmanagement eingeführt. Es soll dazu beitragen, Chancen besser zu erkennen und zu nutzen. Gleichzeitig soll es helfen, Gefahren frühzeitig transparent zu machen. Ein Ausflug in die Welt der Zahlen und Wahrscheinlichkeiten auf dem Vierfeld-Areal in Pratteln vor den Toren Basels.

Vor dem Fenster böte sich den vier Männern in der Bauleitungsbaracke ein spannendes Bild: Sechs gelbe Krane und eine Hundertschaft von Männern treiben einen mächtigen Bau in die Höhe. Es ist wie auf einem Wimmelbild: Wohin man auch schaut, es läuft etwas. Im Vordergrund wächst der Helvetia Tower, mit seinen dereinst 75 Metern Höhe das Wahrzeichen des Vierfeld-Areals und weitherum das höchste Gebäude in Pratteln vor den Toren Basels. Doch die Männer würdigen das emsige Treiben da draussen mit keinem Blick, sondern starren auf die kahle Wand, auf der sich – vom Beamer hingeworfen – scheinbar endlose Zahlen reihen.

Neben dem Bahnhof Pratteln baut Implenia bis im Herbst 2016 auf vier Baufeldern sechs Gebäude mit über 300 Wohnungen sowie Raum für Dienstleistungs- und Gewerbebetriebe. Das vielfältige Projekt umfasst zudem ein Alters- und Pflegezentrum sowie betreutes Wohnen im Alter. Aus dem Hochhaus werden die Bewohner schon bald eine einzigartige Aussicht über die Rheinebene geniessen. Die drei Sockelgeschosse bieten Raum für Dienstleistungen, Büros, Praxisräumlichkeiten, Cafés und Läden. Vor dem Gebäude entsteht ein öffentlicher Platz.

Die in die Zahlen vertieften Männer in der Baracke brauchen nicht zur Baustelle hin­überzusehen, weil sie das Projekt bereits aus dem Effeff kennen. Es sind die beiden Projektleiter Philipp Hauri und Rainer Kaiser sowie Philip Woolley, der Gesamtprojektleiter des Vierfelds. Sie besprechen mit Andreas Beier, dem Leiter des Riskmanagements des Geschäftsbereichs Buildings den aktuellen Projektstand.

Philip Woolley berichtet gerade über die Chance, einen sogenannten Mieterausbau zu übernehmen. Ursprünglich war geplant, dass Implenia die Gewerbeflächen im Edelrohbau übergibt. Aber nun hat sich eine bereits bei der Kalkulation des Projekts erkannte Chance konkretisiert: Die Gespräche darüber, dass Implenia für einen zukünftigen Mieter den Innenausbau übernehmen kann, sind bereits weit gediehen. Rainer Kaiser, der am Laptop sitzt, erhöht aufgrund dieser neuen Information den Status im Risktool, einer von Implenia selbst entwickelten Software zum Chancen- und Risikomanagement.

Implenia baute das systematische Riskmanagement in den letzten zwei Jahren auf. Bis Ende 2013 schulte das Unternehmen 244 Mitarbeitende in der Methode und im Gebrauch des Risktools. Das erste Projekt, bei dem das Chancen- und Risikomanagementsystem in der Region Basel angewendet wurde, ist das Vierfeld. Gerechnet hat das Vorhaben Daniel Reber mit seinem Team. Der gelernte Baukostenplaner und Leiter der Kalkulation verfügt über viel Erfahrung. Wenn die Geschäftsstelle Basel von Implenia Buildings ein Projekt offeriert, landen die Unterlagen dazu in der Regel auf Rebers Schreibtisch. Er misst die Pläne aus und berechnet aufgrund des Gesamtpflichtenhefts die Preise für das Bauwerk. Innerhalb weniger Wochen verarbeitet er eine Flut von Informationen zu einer verbindlichen Offerte. Ein sehr verantwortungsvoller Job.

Das Riskmanagement von Implenia umfasst sechs Stufen des Projektablaufs von der Akquisition bis zur Garantie. Für jede davon gibt es einen Fragenkatalog. Um die Fragen der Stufe Kalkulation für das Vierfeld zu beantworten, hat Daniel Reber die Unterlagen der Bauherrschaft durchforstet und teilweise nachrecherchiert, wo die Sachlage unklar war. Dann destillierte er etwa zwanzig Chancen und Risiken aus dem Projekt und erfasste sie im Risktool. Darunter die Chance zum Mieterausbau. «Das Programm zwingt dazu, sich über Aspekte Gedanken zu machen, die in der konventionellen Planung unter den Tisch fallen», sagt Reber. Vor allem verlangt das Risktool nach konkreten Massnahmen und Zahlenwerten bezüglich einer Chance oder eines Risikos.

Die Kalkulation ist der wichtigste Schritt im Riskmanagement. Hier entscheidet sich, ob die Chancen und Risiken erkannt und richtig bewertet werden. «Es braucht seine Zeit, bis man die Methodik intus hat und das Programm kennt», räumt Reber ein, «aber ich weiss, dass es notwendig ist.» Inzwischen ist es für Reber zur Routine geworden – er hat bereits zehn Projekte damit abgewickelt. Und hat auch für sich Vorteile entdeckt: «Es ist angenehm, dass man durch die Ausweisung der Risiken Verantwortung übertragen kann.» So hat Reber die Gewissheit, dass sich bei der Ausführung des Projekts jemand um die von ihm erkannten Chancen und Risiken kümmert. Das systematische Vorgehen mindert so die Last auf den Schultern der Kalkulatoren.

Zurück zur Baubaracke, wo die Diskussion über das elektronische Risikojournal weitergeht, das Daniel Reber vor einigen Monaten angelegt hatte. «Ich bin sehr erfreut, wie weit das Thema Mieterausbau inzwischen bearbeitet wurde», sagt Andreas Beier. Jetzt braucht es neben der Aktualisierung des Status noch eine finanzielle Neubewertung der Chance. Daniel Reber hatte Schätzwerte für die möglichen Szenarien eingetragen. Die Männer in Pratteln sind sich einig, dass die Zahlen immer noch zutreffen. Damit ist der Eintrag Nr. 15 im Risikojournal abgeschlossen und der nächste Punkt kommt zur Sprache, diesmal ein Risiko.

DAS RISIKO IN ZAHLEN FASSEN

Jedes identifizierte Risiko (und auch jede Chance) wird bei Implenia in drei Szenarien beschrieben: Der Best Case entspricht dem denkbar günstigsten Entwicklungsverlauf. Der Worst Case entspricht der pessimistischsten Möglichkeit. Als Real Case bezeichnet man jenes Szenario, das am wahrscheinlichsten eintrifft. Entscheidend ist nun, dass der Kalkulator die drei Szenarien konkret bautechnisch beschreibt und durchrechnet. In einem zweiten Schritt wird den drei Szenarien jeweils eine Wahrscheinlichkeit zugeordnet, mit der es eintrifft. Das Programm zum Riskmanagement (Risiko-Tool) berechnet dann den erwarteten Nutzen oder Schaden, indem es die Kosten der drei Szenarien mit der jeweiligen Wahrscheinlichkeit multipliziert und diese Werte summiert. Dieser sogenannte RC-Wert ist die entscheidende Kenngrösse im Riskmanagement.

«In der Regel überprüfen wir die Risikobewertung im Rahmen der monatlichen Bilanzierung der Projektleitung», erklärt Projektleiter Philipp Hauri. «Der Aufwand für uns ist also sehr überschaubar.» Umso grösser ist der Nutzen. «Der enorme Fortschritt ist, dass wir in der Bauausführung die Informationen unserer Kollegen in der Kalkulation vollständig zur Verfügung haben», bekräftigt sein Kollege Rainer Kaiser. «In den Schnittstellen geht nichts verloren und es muss nichts zusammengesucht werden.» Weil das Wissen nicht bloss in den Köpfen vorhanden ist, sondern auf dem Tisch liegt, können die Ausführenden gleich loslegen, wenn der Auftrag hereinkommt. Ein grosser Vorteil angesichts immer knapper werdender Termine.

Gesamtprojektleiter Philip Woolley pflichtet bei: «Chancen und Risiken spielten schon immer eine Rolle, aber mit der neuen Metho­dik verfügen wir über eine systematische Erfassung und die transparente Darstellung.» Angesichts des engen vertraglichen Korsetts, das in vielen Projekten besteht, dürfe nichts dem Zufall überlassen werden. «Mir als Gesamtprojektverantwortlicher gibt das Tool eine gewisse Ruhe.» Es gehört schlicht und einfach zu den standardisierten Prozessen, die ein Grossunternehmen haben muss. «Wir können nicht einfach mal auf gut Glück arbeiten und hoffen, dass am Schluss die Rechnung aufgeht.»

BEISPIELE FÜR BEKANNTE RISIKEN

BEISPIELE FÜR UNBEKANNTE RISIKEN